Hundert Jahre Blindheit: Roman
Als am 24. Mai 1900 der blinde Matija als 5. Kind von Ignacij und Terezija Knap auf die Welt kommt, ist die Welt in Podgorje gerade am Untergehen: die Hälfte des Dorfes ist bereits leer, der Winter hat den linken Teil des großen, vor Jahren noch stabilen Hauses zerstört und unbewohnbar gemacht, in der Nacht der Geburt zerreißt es auch noch das restliche Haus (so dass die Geburt in der Heuharfe stattfinden muss) und auch das Kirchengebäude stürzt ein.
Ursache dafür ist der Bergbau, der das ganze Gebiet unterhöhlt. Und so bleibt Ignacij Knap nichts anderes übrig, als aus dem ehemaligen Landgut, das ihm vor 4 Jahren sein Vater überschrieben hatte, als Arbeiter mit seiner Familie in die neue Bergbau-Kolonie zu ziehen.
Mit Erinnerungen an die Vorfahren begleiten wir die Familie 100 Jahre lang und gewinnen dadurch auch einen Blick auf die Geschichte Sloweniens, insbesondere im Zusammenhang mit dem Bergbau. Wir lesen von ungleichen Zwillingen, die sogar in sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten landen, von harten Lebensbedingungen, von starken Frauen, die sich für die Rechte aller Frauen einsetzen, von belastungsfähiger Familienzusammengehörigkeit und immer wieder von den Eindrücken des blinden, aber musikalischen und empathischen Matija.
Begeistert haben mich auch die - fast schon philosophischen - Gedanken zum Sozialismus (z.B. ‚Ändert sich ein Mensch, wenn er die Spitzhacke gegen das Zepter eintauscht? Wenn bei gewählten Personen solche Veränderungen stattfinden können, handelt es sich dann noch um die die Macht der Arbeiter?‘) oder zum – ewig aktuellen -Thema ‚Umstürzler‘ (‚Unrecht, Dummheit, Gewalt, Missbrauch gibt es überall. Wenn das Maß voll ist, attackieren Umstürzler, erfüllt von großen Verheißungen und jugendlichem Idealismus, die Bastionen der herrschenden Ordnung. Mit einem Mal sitzen sie selbst im Sattel, beginnen zu herrschen, und plötzlich ist alles anders: sie beseitigen Unrecht und begehen neues, sie lösen Probleme, die sie kennen, wobei jene zunehmen, die sie nicht sehen und nicht verstehen……‘)
Wer Freude an solchen Betrachtungen und Interesse an der Geschichte Sloweniens hat, ist bei diesem 584 Seiten umfassenden Buch richtig! Der Autor Roman Rozina wurde dafür mit dem wichtigsten slowenischen Literaturpreis, dem Kresnik Preis 2022, ausgezeichnet. Von Alexandra Natalie Zalesnik wurde der Roman ins Deutsche übersetzt. 4 Sterne bekommt er von mir für diese beeindruckende, vielschichtige Familiengeschichte!
Slowenisches Leben in Podgorje
Kurzmeinung: Legende und/oder politisches Manifest
„Slowenien ist in kleines Land, erläuterte Matis, es kommt nicht allzu oft vor, dass er auf seinen Reisen der slowenischen Sprache begegnet.“ Man könnte diese Aussage als Motto nehmen, wenn man eine Rezension über dieses Buch, „Hundert Jahre Blindheit“ zu schreiben hat.
Slowenien ist ein kleines Land, es werden nicht allzu viele Romane aus dieser Sprache in die unsere übersetzt, und so ist allein schon dessen Existenz eine Art Wundertüte für uns. Wir schauen hinein …und finden in dem Roman mehr eine Sage vor als eine pure Familiengeschichte.
Der Stil, der die Zeiten nicht (ein)hält, die Figuren, die nicht richtig lebendig werden, die vielen belehrenden Dialoge, die vielen Protagonisten, das alles klingt in meinen Ohren nach einer Legende. Wir sollen belehrt werden. Geschliffene Formulierungen darf man nicht erwarten, die Erzählstimme ist schlicht und wirkt unbeholfen.
Im Großen und Ganzen geht es um 100 Jahre slowenische Geschichte, die sich von 1900 bis 2000 spannt und von dem blindgeborenen Matis ausgehend erzählt wird. Die armseligen Verhältnisse der Bergbauabeiter sind Thema, das Verhältnis von Sozialismus und Kapitalismus, von Unterdrückung, Repression und Aufbegehren, vom Lauf der Geschichte, schließlich auch vom Fortschritt, alle diese Themen bringt der Autor unter. Diese Themen sind zwar per se spannend, aber leider werden sie hauptsächlich durch lange belehrende und langweilige Dialog an den Leser gebracht und zwar so hölzern, dass man weiß, die Menschen sprechen und diskutieren nicht untereinander, sondern diese Dialoge sind einzig und allein Belehrungsmaterial für die Leserschaft. Dies verstimmt (mich) und nimmt nicht für den Roman ein. Es wird geredet und geredet und geredet.
Natürlich erwärmt man sich ab und zu auch für einige der Figuren, so ist Sofia, zum Beispiel eine sich für die Familie aufopfernde Frau, die man lieb gewinnt und natürlich ist man auch von den mannigfaltigen Schicksalsschlägen, die die Familie Knapp trifft, berührt, aber der Roman hat doch eher informierende, als aufwühlende Elemente. Der erzählende blinde Matis ist kein Erzähler, der sich Innerlichkeiten widmet.
Trotz politischem Beiwerk, ist der Roman für meinen Geschmack nicht einmal politisch genug, weil er kaum Bezug auf die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse nimmt, sondern gerade da im Allgemeinen bleibt und in weiten Teilen Manifestcharakter hat. Wenn ich das will, lese ich gleich das Kommunistische Manifest.
Fazit: Der Roman, ein Stück slowenische Geschichte transportierend mit Schwerpunkt Bergbau /Glashütte, behäbig informierend, sprachlich hölzern, konnte mich nicht in seinen Bann ziehen. Ein Personenregister wäre dringend erforderlich gewesen! Leider Fehlanzeige.
Kategorie: Historischer Roman
Verlag: Klett Cotta, 2023